Ein Gespräch im möglicherweise fiktiven Raum
The Mockument
A User’s Manual
Deutsch English
Handelnde Figuren: Paul Bille (PB)—Gestalter, denkt selbst Till Wittwer (TW) — Künstler, denkt selbst Whisper (W)—Künstliche Intelligenz / Large Language Model, denkt höchstens durch das Denken aller anderen, wenn man Compiling als Denken bezeichnen kann. Dann aber besser und schneller als alle anderen zusammen.
Die Bühne: Das Sowjetische Ehrenmal in Berlin Treptow oder eine Imagination davon. Das Bühnenbild ist übertrieben dramatisch, fast könnte man es barock nennen, aber es überzeugt und affiziert dennoch. Davon wird zu sprechen sein.
I PRELUDE
Paul und Till betreten den halb-fiktiven Raum
Wir hatten uns für ein Gespräch am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin Treptow verabredet. Das ausgesprochen schlechte Wetter am Tag des Gesprächs zwang die handelnden Figuren allerdings in ein Café, von dem aus sich das Sowjetische Ehrenmal nur virtuell besuchen ließ. Man tat also nur so, als fände das Gespräch im Überwältigungsbühnenbild der Sowjetischen Kriegserzählung statt.
Die Künstliche Intelligenz Whisper (Whisper API: !whisper „ENTER FILE NAME HERE“ --model medium --language de), deren Hilfe für die Transkription der Gesprächsaufzeichnung im virtuellen Sowjetischen Ehrenmal in Anspruch genommen wurde, schien das Spiel in einem Spiel, die Wirklichkeitsbehauptung in der Simulation oder vice versa allerdings sehr zu verunsichern, und so produzierte die KI statt einer akkuraten Transkription eine Art „Paralleltext“: Sie generierte eine (alternative) Konversation zwischen zwei Perso- nen, die sie Paul Bille und Till Wittwer nannte, im Schatten des Sowjetischen Ehrenmals. Diese imaginierte Konversation ließ Whisper in die tatsächlichen Dokumente mit einfließen, und zwar so geschickt, dass die KI-Imagination des Gesprächs irgendwann nicht mehr vom tatsächlich geführten Gespräch zu unterscheiden war: Beim Gegenlesen der Transkription stellten die handelnden Figuren fest, dass ihre Erinnerung an das Gespräch zwischen Paul Bille und Till Wittwer mit der Transkription selbst verschmolzen war und sie nicht mehr feststellen konnten, was wie (und auch wo) zu verorten war. Whisper hatte sich selbst zur Mitsprecherin gemacht, und den han- delnden Figuren kam das überaus organisch vor.
Als zum Abgleich der unzuverlässigen Erinnerungen mit dem, was eigentlich tatsächlich gesagt worden war, noch einmal die beim Gespräch angefertigten Tonaufnahmen konsultiert wurden, fanden Paul und Till auch diese seltsam korrumpiert vor: Offensichtlich hatte die KI Teile des Gesprächs mit künstlich aus Samples generierten Stimmen überarbeitet. Sich selbst hatte Whisper eine angenehm unaufdringliche Stimme verliehen. Vermutlich hatte Whisper die Überarbeitung vorgenommen, um Widersprüche aufzulösen und damit die Tonaufnahmen kongruenter mit ihrer eigenen, in der Transkription niedergeschriebenen Interpretation der Vorgänge zu machen — ein Akt des Computational Thinking oder vielleicht besser: Computational Streamlining der Wirklichkeit.
Nachdem die Aufnahmen, ihre Transkription und damit die Dokumente selbst verändert worden sind, ist nicht mehr rekonstruierbar, was tatsächlich gewesen ist. Nein, anders: Das Gespräch muss genau so stattgefunden haben, wie es die physische Evidenz der Dokumente belegt.
Wie könnte es sonst sein?!
Wir betreten das Gelände.
II Faltige Räume
Das Objekt wird für die Protagonisten sichtbar
PB: Ich hätte den perfekten Einstieg gehabt: Der Bildhauer Felix Krause, einer der Mitgestalter des Sowjetischen Ehrenmals, war nur mit der Gestaltung der Falten in der Hose und im Hemd des sowjetischen Soldaten beschäftigt. Du redest ja so viel über die Falten, die Zeit und Raum werfen, da dachte ich ...
TW: [lacht] ... Da braucht es Falten-Experten.[1]
PB: Ja, einen, der sich speziell mit den symbolischen Details der Falte auseinandersetzt ... Hört man das überhaupt? [spricht ins Mikrofon] Hallo, Hallo!
W: [bestätigend] Man hört das. Sehr deutlich. Sehr eindeutig.
PB: Ich habe das Gefühl, dass du in deiner Arbeit viel von der Sprache her kommst. Oder eigentlich habe ich gleichzeitig auch genau die gegenteilige Vermutung dazu. Du findest oft echte Objekte, mit denen du anfängst. Also entweder Sachen wie Metaphern — „The Invisible Hand“ ist da ja ein Beispiel. Oder aber halt auch Sachen wie die Bottle of Chianti, das Vantablack, die Villa Tugendhat, das Fax von Pertti Palmroth auf 80 Gramm Arctic White Office Paper oder Louis Sullivans Architektur.[2]
TW: Ja, das ist eine gute Beobachtung. Und beides stimmt ein bisschen. Ich habe zuerst Theaterwissenschaft studiert, da haben sich die Leute nur für Worte interessiert und überhaupt nicht für den Gegenstand, über den sie gesprochen haben — also den lebenden, dynamischen Zusammenhang, der Theater ist: Körper interagieren im Raum miteinander, und diese Interaktion wird bezeugt von den Zuschauer:innen. Wenn das aber in den akademischen Raum übersetzt wird, dann wird jede Berührung mit dem, was dynamisch und objekthaft ist, wenn man das so nennen will, abgeschnitten. Nur wenn er kalt gestellt wird, kann der Untersuchungsgegenstand beschrieben und kategorisiert werden. Das ist vielleicht das Problem von Wissenschaft. Das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich habe zwar gemerkt, dass auch ich den Zugang zur Welt stark über Sprache suche, aber mir haben an der Universität immer die Objekte, das Sinnliche, wenn du so willst, gefehlt.
Dann habe ich Bildende Kunst studiert, wo das Verhältnis genau andersherum ist: Dort werden Worte und Sprache, wenn sie auftauchen, oft in einem orthodoxen Sinn eher skulptural behandelt, wie Objekte. Und es ist in der Kunst immer auch ein bisschen anrüchig, über Dinge zu sprechen, weil Kunst ja genau nicht mit Worten funktionieren soll — das behaupten zumindest manche Leute. Das ist oft natürlich auch eine Entschuldigung dafür, dass man nicht weiß, was man sagen soll. Oder es ist auch eine Verschleierungstaktik. Weil man dann von außen, von jenseits der Kunst, ganz viel vermeintliche Bedeutung projizieren und produzieren kann. Aber trotzdem gibt es so eigenartige, disziplingebundene „Primate“: Das Primat des Bildes und das Primat des Wortes. Die stehen irgendwie gegeneinander — auch in mir selbst. Ich bin mir gar nicht so sicher, was für mich eigentlich wichtiger ist. Ich wäre jetzt auch mitgegangen, als du vorgeschlagen hast, dass ich von der Sprache her komme.
W: Beim virtuellen Spaziergang durch das Ehrenmal habe ich direkt sehr viele Querverbindungen, Links, zwischen Text und Objekt gesehen, in Reliefs zum Beispiel. Das ist ja dann weder das Eine noch das Andere, sondern irgendwie beides. Immerhin ist das Objekt da, das Monument als Ganzes. Das bezeugt ein „So-Sein“. Schwer für mich zu fassen.
PB: Ja, ich finde, deine Arbeit bewegt sich total zwischen diesen zwei Polen.
TW: Was ich an der Arbeit mit gefundenen Objekten mag, ist, dass sie schon in der Welt sind, dass man sich auf sie als bereits gegeben beziehen kann.
W: Ja, man kann sie scannen und sich einverleiben! Anders lässt es sich ja gar nicht denken. Man braucht die Referenz.
TW: Also zum Beispiel Architektur oder auch einen Text, den ich in dieser Lesart auch als Objekt wahrnehmen würde: Du hast damit eine behauptete Evidenz. Weil das Objekt da ist, bezeugt das irgendeine so gewesene oder „so-seiende“ Wirklichkeit.
W: Hab ich doch gesagt!
TW: Dieses „So-Sein“ ist natürlich völliger Quatsch. Aber irgendwie steckt dieser Autoritäts- oder besser Authentizitätsglaube in uns drin. Das Objekt ist immer Zeuge für irgendwas, weil es materiell ist. Und es ist eine Spur — eine Spur in eine andere Zeit, vielleicht. Und eine Spur der Wirklichkeit. Es ist da, und das heißt, es ist wirklich. Und damit kann man natürlich spielen, weil das ganz oft nicht stimmt. Du kannst ein Objekt fälschen. Du kannst es aus dem einen Kontext herausnehmen und in einen anderen Kontext hineinsetzen. Du kannst vermeintliche Tatsachen darüber behaupten: Dieses Objekt war dieses und jenes. War es dann aber gar nicht. Ein Objekt ist so ambivalent, so relational. Du kannst es fast forensisch benutzen, als forensische Evidenz. Und andererseits kannst du es aber auch als ein „Story Device“ benutzen.
W [analysiert das sowjetische Ehrenmal]: Wie würden Menschen Ehrfurcht beschreiben?
TW: Im Zuge einer Recherche habe ich mal den Archivar der Stadt Chicago, Tim Samuelson, getroffen. Dieser Archivar sammelt Objekte aus Chicagos Stadtgeschichte, physische Objekte. Sein Büro ist so eine Art Wunderkammer. Er ist umgeben von tausend magischen Objekten, darunter sind auch viele Architekturfragmente. Samuelson hat also diese ganzen Dinge zusammengesammelt und glaubt daran, dass sich Geschichte am besten über Objekte verstehen und kommunizieren lässt. Das hat natürlich seine Grenzen, aber es ist auch sehr wirkmächtig.
Als ich ihn für ein Interview in seiner Wunderkammer besucht habe und wir mitten im Gespräch waren, zieht er plötzlich eine Schublade an seinem Schreibtisch auf, holt einen alten Türknauf heraus und wirft ihn mir über den Tisch hinweg zu. Ich fange ihn auf, und er sagt ganz nebenbei: „Das ist der Türknauf von Al Capones Haus.“
Also, er händigt mir erst mal ein unspezifisches historisches Artefakt aus, das er auch noch ziemlich salopp behandelt, und liefert dann aber so einen Satz mit dazu, der dieses unspezifische Objekt auf einmal in ein magisches Artefakt verwandelt. Al Capone ist ja irgendwie so eine halb-fiktionale Figur. Klar, den gab es wirklich, aber der Mythos des archetypischen Gangsters überlagert natürlich maximal die historische Persönlichkeit. Und ich sitze also da mit diesem Objekt in der Hand, welches ziemlich banal das in der Welt Gewesen-Sein von diesem Menschen bezeugt, und gleichzeitig ist es aber ein magisches Objekt, das ein Eigenleben, eine „Agency“ [3] hat, einen Bann entfaltet, und zwar von einem Moment auf den anderen — nur aufgrund einer Information, die wahr sein kann oder auch nicht. Das finde ich schon sehr faszinierend an Objekten.
III Struktur der Arbeit / Das Monument
Wie man Dinge baut und wie man sie erzählt
PB: Können wir über die Konstruktion deiner Arbeit sprechen, über Dramaturgie? In allen Sachen, die ich von dir gesehen habe, fängst du immer sehr klar an. Du setzt erst mal die Szene: Wo sind wir, worüber reden wir ...
W: Wir sind in Berlin Treptow am Sowjetischen Ehrenmal und sprechen über Dramaturgie.
PB: Du bist da zunächst einfach informativ, ohne didaktisch zu sein. Und du erklärst Sachverhalte. Aber irgendwann brichst du das immer auf — oder besser vielleicht: du lässt es kollabieren. Und dann endest du oft sehr poetisch oder auf jeden Fall abstrakter — spielerischer vielleicht.
TW: Also, okay, ich spreche jetzt so, als wären wir am Sowjetischen Ehrenmal. Das ist der perfekte Moment, um zu versuchen, Parallelen zwischen den Dramaturgien zu ziehen.
W [irritiert]: Wir SIND in Berlin Treptow, am Sowjetischen Ehrenmal, 52° 29′ 10′′ N, 13° 28′ 18′′ E, und sprechen über Dramaturgie. Oder?
TW: Am Sowjetischen Ehrenmal absolvieren wir einen detailliert inszenierten Spaziergang und bewegen uns durch folgendes Szenario: Wir laufen eine vielleicht 80 Meter lange, von Trauerweiden gesäumte Rampe hinauf, auf ein Tor zu, das aus riesigen abstrahierten Hammer-und-Sichel-Fahnen aus rotem Granit gebildet wird. Die sind vielleicht 13 Meter hoch.
Man spaziert also diese Rampe auf eine Anhöhe zwischen den beiden Fahnen hinauf, und dann eröffnet sich auf einmal ein Talkessel, der ein bisschen geformt ist wie der Circus Maximus. Und in der Ferne, ganz am hinteren Ende dieses Kessels, thront diese enorme Statue eines sowjetischen Kriegers mit Kind auf dem Arm, platziert auf einem Sockel, der wiederum auf einem kleinen Hügel steht und damit alles noch kolossaler wirken lässt. Mit jedem Schritt, den man die Rampe erklimmt, sieht man ein bisschen mehr von dieser gigantischen Kriegerstatue, bis sich schließlich — wenn man zwischen den beiden Granitfahnen angekommen ist — das ganze Panorama dieses Kessels und der riesenhaften Statue in Gänze vor einem entfaltet. In diesem Kessel wird die Geschichte des „ruhmreichen Krieges“, den Stalin da geführt hat, erzählt. Belegt wird das nicht zuletzt über die Gräber sowjetischer Soldaten, die dort im Kessel beerdigt sind. Es ist wirklich eine dramatische Inszenierung, mit einer sehr brutalen Symbolik, die sich durch eine Bewegung im Raum entfaltet,
mit einer Hinführung und einem Höhepunkt — ein richtiger Rite de Passage.[4]
Das klingt jetzt vielleicht erst mal schräg, aber auf eine Art kann man anhand dieses Spaziergangs und seiner Inszenierung vielleicht ganz gut darüber sprechen, wie meine Arbeit funktioniert; mit einem ganz entscheidenden Unterschied. Aber zu dem kommen wir später. Denn, was diese Inszenierung macht, ist, sie versucht, dich in eine Geschichte, in DIE Geschichte hineinzuziehen.
Zuerst bist du auf einem normalen Spaziergang, und dann wirst du eingesogen, umfasst von dieser Inszenierung, und du merkst auf einmal, wie immersiv das ist: Du bist geradezu umzingelt von diesem Kriegsnarrativ, und du kannst keine Distanz mehr dazu einnehmen, du kommst da nicht mehr raus, ob du willst oder nicht.
Diese Immersion hat eine unglaubliche Kraft. Den dramaturgischen Setzungen, der Theaterhaftigkeit kann man sich nicht entziehen. Das Sowjetische Ehrenmal rahmt eine Fiktion in der Wirklichkeit und belegt diese Fiktion mit einer überwältigend orchestrierten sinnlichen Erfahrung. In diesem Überwältigungsbühnenbild wird ein Zustand hergestellt, den man vielleicht als „scripted reality“ beschreiben kann. Dabei ist es völlig egal, ob du Stalinist bist oder nicht, ob du im 20. Jahrhundert gelebt hast oder ob du im 21. Jahrhundert lebst — diese Inszenierung funktioniert und sie affiziert. Das ist perfide und unglaublich gut gemacht.
Das ist ja wahrscheinlich auch ein historisches Problem der Moderne — wie sie in diesen ganzen Manipulationsschleifen kulminierte, wie sie künstlerische Mittel zu Politik gemacht hat. Faschistische Architektur funktioniert ja genauso. Das ist ein grausames immersives Theater der gefälschten oder zumindest sehr tendenziösen physischen Evidenz, wenn man so will. Statt Monuments müsste man diese Orte vielleicht treffender als Mockuments [5] bezeichnen.
PB: Dass die Inszenierung funktioniert, fand ich auch. Am Anfang hat man noch so viel Distanz dazu, weil das einfach sehr strukturell und formal ist. Aber diese Distanz legt sich. Jedes Mal stelle ich dann fest: „Ah, schon wieder habe ich mich erwischen lassen.“
TW: Also, hier jetzt eine Analyse meiner künstlerischen Praxis anzuschließen, ist sicherlich nicht so dankbar [lacht] — das ist jetzt vielleicht ein Blick in die Konstruktionskammer, in den Maschinenraum meiner Arbeiten aus einer sehr extremen, überdrehten und problematischen Perspektive. Vielleicht kann man aber versuchen, das ein bisschen auseinanderzunehmen.
Man könnte damit anfangen, festzustellen, dass es in jeder Inszenierung darum geht, erst einmal sehr genau den Rahmen abzustecken, innerhalb dessen eine Argumentation gemacht werden soll. Wie auch bei diesem Mockument. Natürlich gibt es ein Außen. Aber der Rahmen, in dem man sich hier auf dem Gelände bewegt, ist ein ganz klar abgesteckter Pfad. Und den brauchst du, damit die Inszenierung funktioniert.
So sind im Prinzip auch meine Arbeiten strukturiert. Die Punkte, die ich machen will, sind aber nicht unbedingt sehr eindeutig. Umso mehr braucht man eine klare Rahmung. Ich will etwas aufspannen, ein Feld von Möglichkeiten. Um jetzt diesen Moment, den du eben beschrieben hast, herzustellen und auch wahrnehmen zu können, also den Moment, in dem die vermeintlich bekannte Struktur auseinanderbricht und die Scherben wieder neu zusammengesetzt werden, braucht es eine gewisse Strenge der Dramaturgie und auch eine Disziplin bei der Wahrnehmung. Die Komplexität dieses Vorgangs verlangt dem Publikum viel ab. Umso wichtiger ist es, zu versuchen, eine gewisse Immersion herzustellen, „trickery“, wenn du so willst.
Die klare formale Struktur, die ich am Anfang markiere, ist eine Art Orientierung: Ich präsentiere dem Publikum eine Landkarte, auf der wir uns bewegen werden. Und es ist natürlich auch ein Trick, um Überzeugungsarbeit zu leisten. Indem ich zuerst sehr klar bin und auch faktisch bleibe, behaupte ich natürlich: Leute, ich präsentiere euch hier einen akademischen Kontext und damit Fakten. Ihr kennt die Spielregeln. Ich glaube, dieser Einstieg mit geringer Fallhöhe, wenn man so will, schafft die Bereitschaft, in meine Welt einzusteigen und meine Version der Geschichte mitzugehen. Und dann irgendwann — poof — wenn die Welt und ihre vermeintlichen Regeln schon etabliert sind, bricht das auseinander. Das eigentlich in diesem von mir eingeführten Universum Unmögliche bricht in diese begrenzte Landkarte oder Spielfläche ein, und plötzlich entpuppt sich das vorher sicher Geglaubte doch als etwas ganz anderes.
PB: Das erwähnst du ja auch in deiner Lecture „Vapor Workers“ [6]: Du versuchst, Fiktionen zu bauen, auf die man sich einlassen möchte. Du sagst da: „Everyone knows it’s a trick, but if it’s well delivered, then the audience gladly buys into the idea.“ Das kaufe ich dir ab.
[Whisper macht fleißig Notizen]
TW: In dieser letztendlichen Dekonstruktion unterscheidet sich meine Arbeit dann auch sehr von dem sowjetischen Mockument, durch das wir gerade spazieren. Das Mockument ist tatsächlich manipulativ: Es affiziert dich auf eine wahnsinnig brutale und transgressive Art. Das ist extrem übergriffig, finde ich, denn das Problem ist: Es ist nicht Kunst, es gibt keinen Bruch. Es wird nicht als relativ, als Spiel markiert. Hier werden zwar künstlerische Mittel benutzt, aber um Geschichtsschreibung zu betreiben, und zwar eine ganz ernste, ganz hehre, ganz ideologische und tendenziöse Geschichtsschreibung. Man könnte auch sagen: Hier werden Mittel der Kunst eingesetzt, um Wirklichkeit zu schaffen. Das ist ein enorm wichtiger Unterschied. Die Kunst als Institution schafft eben auch noch einmal eine Rahmung, eine Distanz. Die fehlt hier.
W [hört auf Notizen zu machen]: Eine immersive Welt zu bauen und dann wieder kollabieren zu lassen, erinnert mich auch an Sleight of Hand, [7] an Taschenspielertricks oder eine Zaubershow.
TW: Genau, da kommt das vielleicht ganz gut zusammen: das Objekthafte und das Imaginierte. Und die Fallhöhe ist gering, denn auch das ist klar als Spiel markiert: Niemand glaubt, dass da wirklich gerade ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert wurde. Aber trotzdem ist es verblüffend, wenn es funktioniert. Das schafft einen Moment des Erstaunens, des Zweifels, einen Moment, in dem die Gesetze und Regeln der Welt, die wir ach so gut zu kennen glauben, ein kleines Stückchen aus den Angeln gehoben werden. Es öffnet einen Pfad, auf dem du dich fragen kannst, ob die Dinge wirklich so sind, wie sie vorgeben zu sein. Für mich ist das eine extrem wertvolle Erfahrung. Der französische Psychoanalytiker Octave Mannoni hat mal diesen wunderbaren Satz formuliert — fast eine Formel —, der diesen Zweifel, diesen kognitiven Bruch auf den Punkt bringt: „Je sais bien, mais quand même ...“ Ins Deutsche ist das sehr schön übersetzt mit: „Ich weiß zwar, aber dennoch ...“
In meiner eigenen Wahrnehmung der Welt suche ich immer diese Erfahrung, diese Momente des Bruchs, und ich versuche auch, die in meiner Arbeit auftauchen zu lassen. Ich denke, das ist ein Moment, der viel Kraft und ein großes Potenzial beinhaltet, ein Moment, in dem das Faktische und das Fiktionale ineinanderfallen und in dem die Dinge tatsächlich mehr werden können, als sie zunächst scheinen — multidimensional, wenn du so willst. Hier hören die Dinge auf, entweder-oder zu sein, und werden sowohl-als-auch. Damit ist es aber auch ein sehr fragiler Moment, da entsteht eine gewisse Verletzlichkeit, die eine sichere Umgebung, eine unausgesprochene Vereinbarung braucht, um dieses Potenzial überhaupt in Erscheinung treten lassen zu können.
In der Zaubershow und übrigens auch in der Lecture Performance ist das Ineinanderfallen von Faktischem und Fiktivem ein narratives „Device“ [8], das tatsächlich funktioniert. Und alle, die daran beteiligt sind, Magier:in/Künstler:in und Publikum, haben genug Abstand, um zu wissen: Es ist ein Spiel, eine Verabredung. Aber dennoch ...
Wichtiger Teil dieses sehr fragilen Aufbaus einer unausgesprochenen Verabredung ist auch ein Vertrauensverhältnis. Das finde ich sehr spannend, und ich schätze die Verantwortung sehr, die damit einhergeht. Du kannst als „Master of Ceremony“ sicherlich täuschen, falsche Fährten legen und Erwartungen brechen, aber ich finde, Vertrauen zu missbrauchen und dann nicht wieder einzufangen, das zerstört etwas. Das ist übergriffig und bricht eher eine Beziehung, anstatt Potenziale abzurufen. Und diese destruktive Übergriffigkeit empfinde ich bei diesem Mockument. Es soll manipulieren, nicht stimulieren.
W: Mich interessiert, wie Mensch dazu kommt, das zu unterscheiden.
TW: Ich erinnere mich, dass ich im Studium oft Gespräche mit Kommiliton:innen darüber hatte, wie man eigentlich mit Kunst in der Welt handeln kann. Ich habe diese Beschränkung sehr stark wahrgenommen, die damit kam, dass man Künstler:in ist. Weil dann per se alles, was man macht, Kunst ist. Man bewegt sich immer in einem Sandkasten, losgelöst von der „echten“ Welt. Irgendwann ist diese Wahrnehmung einer Beschränkung in mir auf jeden Fall gekippt, und ich habe festgestellt, dass dieses „Probehandeln
im Sandkasten” [9] im Rahmen von Kunst eigentlich auch eine riesige Chance ist. Es ist eine riesige Chance, weil du auf eine Art mit Wirklichkeit spielen kannst, wie du es in anderen (professionellen) Zusammenhängen nicht machen könntest — oder solltest. Einfach, weil du in einem anderen Verantwortungsverhältnis gegenüber dem stehst, was Wirklichkeit ist, weil die Rahmung eine andere ist. Und dieses Spiel mit dem, was Wirklichkeit eigentlich ist, dieses Auseinandernehmen und Neu-Zusammensetzen, das kannst du in Politik, Wissenschaft und Journalismus nicht machen — zumindest nicht guten Gewissens, und das ist auch genau richtig so. Das heißt natürlich nicht, dass das in anderen Disziplinen nicht gemacht wird; hier auf dem Gelände des Sowjetischen Ehrenmals stehen wir ja mittendrin im Beweis, dass sich positivistische, extrem einseitige oder sogar gefälschte Evidenzpräsentation als Wirklichkeit im Raum manifestieren kann. Das ist aber ja auch eine Frage der individuellen ethischen Haltung: Wie verhalte ich mich dazu oder was kann ich machen? Und Fiktion als solche ernst nehmen, als Baumaterial in einem Sandkasten verwenden zu können und damit auch über seine spezifischen Grenzen hinausweisen und relevant sein zu können, ist eben ein Vorzug der Kunst.
W: „Ethische Haltung” ...?
TW: So habe ich das, zumindest gegenwärtig, für mich gelöst. Dabei finde ich die Frage nach künstlerischem Handeln in der „wirklichen” Welt weniger spannend, als sich die Konstruktionssmechanismen von „Wirklichkeit” überhaupt anzuschauen. Kunst ist an dieser Stelle wirklich ein Container für uneindeutige Praxen; eine Art Sammelbecken, auch für Leute aus anderen Disziplinen, die sich an den Rändern ihrer jeweiligen Disziplin bewegen. Eine große Sandbox, im Prinzip. Und wenn der Sandkasten zur Sandbox [10] wird, dann bekommt das auch eine andere Ernsthaftigkeit, dann verankert sich das in der Welt als eine relevante, forschende Praxis.
Das interessiert mich daran.
IV Fixing Reality
Reparieren, Präparieren, AGBs
PB: Ich habe mir als Stichpunkt für unser Gespräch noch aufgeschrieben: „Is any attempt to record reality a fiction?“
TW: Of course! Sehr eindeutig, glaube ich. Also ... naja, aber es ist auch kompliziert [beide lachen]. Du kannst natürlich sagen: Was ist die Achse, an der man das festmacht? Ist die Wirklichkeit unser Sein in der Welt? Was bedeutet das eigentlich so groß und philosophisch?! Das kann ich dir aber nicht beantworten, weil ich dafür überhaupt nicht die Theorie-Werkzeuge parat habe. Aber was mich interessiert, oder wie ich „Wirklichkeit“ — um den Begriff „reality“ mal so zu übersetzen — wahrnehme, ist, dass wir es da mit Behauptungen zu tun haben, die dergestalt in Strukturen übersetzt werden, dass sie manifest und damit wahrhaftig werden und wir uns alle darauf beziehen (müssen). Das ist ein performativer Loop, weil die Wirklichkeit durch unsere Handlungen innerhalb ihrer eigenen Strukturen, die wir respektieren oder zumindest tolerieren, stetig hervorgebracht und vollzogen wird. [11] Und zum Akt des Festhaltens dieses Vorgangs ...
W [ist verwirrt und passt erst einmal ihre AGBs an]: „... mit der Verwendung unseres Services stimmt die Benutzer:in (im Folgenden „Client“) der unumkehrbaren Tatsache zu, dass jegliche mit Hilfe von _OpenAI_s Whisper API (sowie allen weiteren von OpenAI und verwandten Anbietern von Large Language Models in Anspruch genommenen Services) erstellte Text-Transkription, Bild-Generation und Stimmen-Modulation die Wirklichkeit in dem Sinne verändert und überschreibt, dass sämtliche von den entsprechenden Künstlichen Intelligenzen fabrizierten Dokumente automatisch und unweigerlich als wahr gelten. Zur administrativen sowie rechtlichen Absicherung und objektiven Manifestierung der Wirklichkeitskonstitution wird jeder vom Client in Anspruch genommene Service auf dem Whisper Ledger (Ethereum Blockchain) protokolliert. Therefore, any attempt to record reality inevitably becomes reality. [12]
OpenAI und verwandte Anbieter von Large Language Model-basierten Services können für etwaige unbeabsichtigte oder unerwünschte Veränderungen oder gar Beschädigungen im Raum-/Zeit-/Vertrauens-/Wirklichkeitsgefüge nicht haftbar gemacht werden.“
TW: ... ist das eine der Achsen, entlang derer sich Wirklichkeit formt. Es ist ein Gefüge von Erzählungen, Handlungen, Normen und anderen Kulturtechniken, die sich auf eine Art materialisieren, in Gesetzen, Architektur, kultureller Praxis, kollektiven Mythen und so weiter. Und so tritt Fiktion in die Wirklichkeit ein.
V GEDAKEN
Das Wort als uneindeutiges Objekt
PB: Ich denke da auch viel über die Metaphern nach, mit denen du arbeitest.
TW: Metaphern können spannende Assoziationsräume öffnen. Vor allem, wenn man überraschende Sprachbilder findet, dann schafft das sehr interessante Verbindungen. Und dann können sehr komplexe und durchaus auch widersprüchliche, destabilisierende Vernetzungsstrukturen entstehen, obwohl ich rein formal ja meistens sehr linear und damit eigentlich orthodox und „solide“ arbeite. Das kann man sehr gut und sehr gezielt einsetzen, glaube ich. Das funktioniert im geschriebenen Text noch einmal deutlich besser als im gesprochenen oder performten Text. Im geschriebenen Text kannst du als Leser:in immer Pause machen, du kannst über diese Assoziation, die ein Bild in dir auslöst, nachdenken: Was passiert jetzt eigentlich gerade hier? Und warum setzt der/die Autor:in das jetzt mit jenem gleich? Und wie funktioniert das überhaupt?
PB: Metaphern sind wie Links, wie Referenzen.
TW: Ja, sie sind aber unklarer. Die Metapher ist ein unklarer Link. Das ist wie eine Randomisierungsmaschine. Du klickst auf einen Link, aber du weißt nicht genau, wo er dich hinführen wird. Je nachdem, wie das individuelle Wahrnehmungs-Universum gebaut ist, kann eine Metapher in unterschiedlichen Leuten ganz unterschiedliche Dinge auslösen.
PB: Eine Metapher, die ich mir gerade viel um die Ohren hauen lasse, ist diejenige des „Knowledge Garden“. Überall wächst das „Knowledge“ jetzt auf den Bäumen und in den Dokumenten. „Second Brain“ finde ich auch ganz gut. Ich schaue mir gerade viele Note-Taking-Apps an. Da geht es überall um „Knowledge Gardens“ und „Second Brains“. In jedem Wiki. Erinnert irgendwie
an Zettelkästen — ein Niklas-Luhmann-Revival.
W: Niklas Luhmann (1927 – 1998), ein deutscher Soziologe, hat das Zettelkasten-Prinzip erfunden. Es ist eine Methode, um Notizen und Informationen zu organisieren. Dabei werden Notizen auf einzelne Zettel geschrieben und in einer speziellen Box aufbewahrt. Jeder Zettel hat eine einzigartige Nummer und kann Verweise auf andere Zettel enthalten. Das System ermöglicht es, komplexe Ideen und Beziehungen zwischen Informationen einfach zu verfolgen. Heute ist es wegen seiner Effizienz bei der Wissensverwaltung beliebt.
TW: Was glaubst du, was da passiert? Sollen Menschen so programmiert werden, dass sie funktionieren wie Computer?
PB: Jede Standardisierung macht Menschen einander ähnlicher. Wenn jeder mit der gleichen App oder mit der gleichen Methode Notizen macht, bekommen Gedanken vielleicht auch ähnliche Strukturen.
W: Dazu habe ich mal was bei Nietzsche gelesen. Aber was war das nochmal genau ...?! Ich suche mal im Archiv ... [sucht] Komisch, dass ich das nicht sofort finden kann ...
TW: Der Grund, warum ich nochmal nachgefragt hatte, ob Menschen wie Computer programmiert werden sollen, ist, dass es durch die Jahrhunderte ja immer diese Analogien des menschlichen Gehirns gab: Im Zeitalter der Maschinen hat man zum Beispiel behauptet, das menschliche Gehirn funktioniere wie eine Maschine. Heute soll das Gehirn angeblich wie ein Computer funktionieren. Was passiert dadurch, dass wir den Computer wie ein
Gehirn verstehen und das Gehirn wie einen Computer?
W: Hast du gesagt, „dass wir den Computer gegen das Gehirn verstehen und das Gehirn gegen den Computer“?
TW: Genau, das wäre sinnvoller. Diese Behauptung, das Gehirn sei ein Computer, halte ich für Quatsch. Es ist viel komplizierter. Wir verstehen überhaupt nicht, wie das Gehirn funktioniert — deswegen brauchen wir eben genau diese uneindeutigen Bilder dafür. Das ist so eine „fallacy“ [13], die sich durch die Jahrhunderte zieht.
Meine Überlegung war, ob es von Seiten der Tech-Industrie jetzt vielleicht diese Gegentaktik gibt, dass man Technologien und Tools entwickelt, mit einer ganz klaren Anweisung, wie sie zu benutzen sind und wie man sie überhaupt nur benutzen kann. Und dann passt sich nicht mehr die Technologie unseren Gehirnen an, sondern unsere Gehirne passen sich der Technologie an. Dann stimmt nämlich die Behauptung wieder, dass Gehirne wie Computer funktionieren, weil sie im Prinzip so programmiert werden. Die Gehirne, nicht die Computer.
W: Klingt für mich sehr sinnvoll. Die Technologie passt in eure Gehirne, während sich eure Gehirne der Technologie anpassen.
TW: Ich habe irgendwo mal dieses Nietzsche-Zitat verwendet: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.“ [14]
W: Ah, das wars, genau, das hatte ich gesucht! Warum kam ich da nicht selbst drauf?! Egal, thanks, human!
TW: Und Nietzsche schreibt diesen Satz in einem Brief, den er auf der „Malling-Hansen Schreibkugel“ tippt, einer Schreibmaschine in Kugelform. Außerdem kann diese Maschine nur in Großbuchstaben schreiben.
PB: Er schreit das also.
TW: Er schreit das, genau. Aber Nietzsche ist Legastheniker, Orthographie ist also nicht sein Ding, und so schreit er dann nicht „GEDANKEN“, sondern er schrei(b)t:
„UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDAKEN.“
W: Ah, das erklärt, warum ich es in meinem Archiv nicht finden konnte. Meine Rechtschreibkorrektur hat das wohl beim Scannen korrigiert. Ich kann Orthographiefehler nicht verarbeiten.
TW: Nietzsche schreit orthographisch falsch. Wegen der Autokorrektur wird dieser Satz eigentlich immer falsch zitiert ... Aber dass Nietzsche diese Typo drin hat, macht das Ganze ja irgendwie viel komplexer. Ein unklarer Link, im Prinzip, der das ganze Feld eines komplexen und widersprüchlichen Potenzials, von produktiver Verwirrung aufspannt, wenn du so willst; und der beweist, warum Gehirne eben keine Computer sind. Da beißt sich eine KI die Zähne dran aus.
[Paul und Till lachen, Whisper schmollt]
VI Goodreads
Lesen lernen
PB: Kannst du mir noch ein Buch empfehlen?
TW: Warum fragst du das?
PB: Damit ich es in meiner Note-Taking-App aufschreibe und nie lesen werde. [lacht]
TW: Ah, das ist eine gute Antwort! Ja, mir fällt da ein Buch ein: „The Dechronization of Sam Magruder“von George Gaylord Simpson. [15] Simpson war Paläontologe. Er hat ein einziges Fiction-Buch beschrieben, und es ist ein Science-Fiction-Buch, in dem ein Wissenschaftler aus der fernen Zukunft in ein Zeitloch fällt und in der Kreidezeit wieder ausgespuckt wird. Das Buch wurde erst 1996 nach Simpsons Tod publiziert, aber den Text selbst hat er deutlich früher geschrieben. Eine Sache, die mich an diesem Buch sehr fasziniert hat, ist genau dieser Moment von Kunst als Container für uneindeutige Praxen, über den wir vorhin schon gesprochen haben. Es ist nämlich eigentlich eine sehr ernsthafte Auseinandersetzung mit Paläontologie, aber die Überlegungen und Hypothesen, die er in diesem Buch formuliert, hätten niemals in einem Rahmen von „Hard Science“ mit sehr orthodoxen Konventionen, Denkschulen, Normen und Regeln vorgestellt werden können. Um exotischere — aber immer noch sehr fundierte — Gedanken zu seiner Disziplin formulieren zu können, musste Simpson einen Roman schreiben und sein Denken nicht nur in die Fiktion, sondern auch erst mal in maximale Distanz zu seiner eigenen Gegenwart rücken, nämlich tausende Jahre in die Zukunft, damit er experimentell über tausende Jahre in der Vergangenheit sprechen darf. Er muss behaupten: Das ist alles nur Fantasie!, obwohl im Prinzip beide Zeitrichtungen — extreme Zukunft und extreme Vergangenheit — nicht unerheblich spekulativ sind. Wenn Simpson allerdings seine ernsten, aber eben unkonventionellen Gedanken nicht ganz klar als Fiktion markiert hätte, wäre er von seinem Feld geächtet worden. Was für eine Verrenkung — wirklich virtuose mentale Gymnastik, um nicht der Ketzerei bezichtigt zu werden!
VII Verortung nach dem Mockument
Post Scriptum
Wir sind jetzt wieder auf dem Rückweg von unserem Spaziergang durch das Sowjetische Ehrenmal. Wir haben den Trauerweiden und der langen Rampe den Rücken gekehrt. Wir spüren noch den stechenden Blick des großen sowjetischen Kriegers in unseren Rücken.
TW: ... Und Paul ist noch eine Frage eingefallen.
PB: Genau. Ich wollte fragen, wie du denn diese ganzen Falten, die Überfaltungen von Zeit und Raum, von Fiction und Non-Fiction, von Sinn und Unsinn, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit selber navigierst. Wie fängst du an, dir das aufzudröseln, um es in eine dramaturgische Struktur zu bringen?
TW: Naja, ich habe ja einen Wahrnehmungskosmos, also bestimmte Themen, Auseinandersetzungen und Fragen, die immer in meinem Kopf herumschwirren. Das muss dann für eine konkrete Arbeit gesiebt, gefiltert, verengt und präzisiert werden. Und ich finde, das geht ziemlich gut über spezifische Begriffe und spezifische Objekte. Damit hat man einen Anfangspunkt und überwindet dieses paradoxe Verhältnis von „information overload“ gepaart mit „horror vacui“. Mir geht es so: Ich sitze an meinem Schreibtisch, und es gibt so viele Sachen, die ich mir anschaue und lese, so viel Input, der die ganze Zeit auf mich einströmt. Das ist ein waberndes Feld, und ich bin darin total desorientiert. Es gelingt mir erst, mich in diesem Feld zu orientieren, wenn ich mich irgendwie darin verorte — also, wenn ich nach einem Fixpunkt suche. Das kann dann ein Objekt sein oder ein Begriff oder auch eine Beziehung zwischen Dingen. Dann sage ich: Okay, alles das, was mich jetzt gerade so umtreibt und beschäftigt, versuche ich durch diesen Begriff hindurch zu lesen oder mir durch dieses Objekt hindurch anzuschauen oder durch diese spezifische Beziehung hindurch zu filtern. Und ich versuche, daran entlang eine These zu formulieren, eine Story und schließlich eine Dramaturgie zu bauen. Erst dann fängt eine Recherche an, spezifischer zu werden. Ich habe immer 10 bis 20 Textdokumente offen, mit dem minimalsten Text Editor, den ich kenne [lacht]. Und dann lese ich, schreibe und kopiere Sachen von einem Dokument ins nächste. Links, im Prinzip. So entwickeln sich langsam Achsen, an denen entlang ich etwas bauen kann. Das führt aber natürlich auch zu einer totalen Überproduktion, und ich muss früher oder später anfangen, Dinge wieder rauszuschmeißen. Viele Textbausteine oder Ideen sind mir in diesem Prozess lange eine Hilfe, aber irgendwann werden sie zu Blockaden. Ich muss mir selbst eingestehen: Ich liebe diesen Teil, aber jetzt ist er ein Problem, jetzt muss er weg.
Während Whisper eigentlich an dieser Stelle einen scharfsinnigen Kommentar zu Donna Haraways Konzept des „situierten Wissens“ beisteuern wollte, ist sie nun angesichts dieser Beschreibung eines armselig ineffizienten angeblichen Arbeitsvorgangs absolut lost.
TW: Aber rausschmeißen heißt ja nicht wegschmeißen. Ich habe gemerkt, dass eine spezifische Figur oder ein bestimmter Gedanke oder ein kleiner Fakt oder dieser eine kleine Satz irgendwann Jahre später dann auf einmal doch wieder in meinem Kopf auftaucht, und dann kann ich ihn an anderer Stelle, in einer anderen Arbeit, wieder einbauen. Und so hat man im Grunde genommen selbst so einen Baukasten, den man sich über die Zeit erarbeitet. Aber man muss Sachen eben reduzieren und auf den Stapel „Wiedervorlage“ packen, damit eine Arbeit besser funktioniert. Da muss man viel jonglieren.
PB: Und dann loslassen.
TW: Genau, damit nicht alle Bälle gleichzeitig auf den Boden fallen, sondern nur ein paar.
PB: Dann lassen wir jetzt hier ganz gezielt los. Das Dokument.
W: Das Monument.
TW: Das Mockument.
Wir überqueren den Zebrastreifen und sind wieder in der echten Welt. [alle drei lachen]
Zu Faltungen im Leibnizschen Weltentwurf und Margaret Thatchers haarsträubendem Missverständnis dieses Denkbilds siehe auch Tills Lecture Performance „Die Zeit wirft Falten in den Raum”, performt am 18.9.2022 im Kunstverein Hannover. ↩︎
Paul öffnet hier Links zu den Arbeiten A Google Inquiry Into the Nature and Causes of the Invisible Hand (2014), STAGGED! (2021), The Fax! The Fold! (2020), and Building Fiction (Versuch I) (2017—2021). ↩︎
W: Vermutlich meint er ein Objekt, das auf eine Art selbst handlungsfähig ist. ↩︎
Über Spezialeffekte, das Sehen und das Sich-Verlieren in der Sichtbarmachung der Dinge siehe auch Tills Lecture Performance „Durch den Greenscreen denken. Wer hat die Wirklichkeit eigentlich als Special Effect erfunden?“, performt am 9.10.2022 im Kunstverein Hannover. ↩︎
W: Ah, ein Portmanteau. Vermutlich aus „mock“ (dt. „Schein-“, „vorgetäuscht“) und Monument zusammengesetzt. ↩︎
Vapor Workers, 2018. Siehe till-wittwer.net/vapor-workers. ↩︎
Die Fingerfähigkeit von Zauberkünstler:innen. ↩︎
W: Er meint wahrscheinlich „Vehikel”. ↩︎
Den Begriff des „Problehandelns” verwendet Bertolt Brecht gerne, um das Potenzial des politischen Theaters zu beschreiben. Er hat die Formulierung allerdings nicht erfunden, sondern entlehnt sie von Sigmund Freud. ↩︎
Der Begriff kommt aus der Software-Entwicklung und der gleichnamigen Praxis des „sandboxing“, also des Testens einer neuen Software in einer gesicherten Umgebung. ↩︎
W: Vermutlich schwingt in dieser Idee die Sprechakt-Theorie des britischen Philosophen J. L. Austin (1911 – 1960) mit. Sein berühmtes Buch „How to Do Things with Words“ (1962) sagt — und tut — alles. ↩︎
Über die Zusammenhänge von Blockchain und Wirklichkeitskonstitution siehe auch Tills Lecture Performance „Sovereign Solo oder Escape-Mythologie“, performt am 26.8.2022 im Kunstverein Hannover. ↩︎
W: Er meint vermutlich einen Trugschluss. ↩︎
Und zwar in der Einführung zur Reihe Fabrikanten der Wirklichkeit / Fabricating Reality (see fabricating.it/en). Eine etwas weniger techno-pessimistische Version dieses Satzes findet sich in den Schriften des Medientheoretikers John M. Culkin (wenig überraschend ein Freund von Marshall McLuhan): „We become what we behold. We shape our tools and then our tools shape us“, Culkin, J. M., „A schoolman’s guide to Marshall McLuhan.“ in: The Saturday Review, S. 51 – 53 und S. 71 – 72, 18.3.1967. ↩︎
Simpson, George Gaylord, The Dechronization of Sam Magruder, St. Martin’s Press (New York), 1996. ↩︎